Thinking about Medea
Duke menduar Medean
Beatrice Fleischlin & Gjergj Prevazi

„Es gibt eine Geschichte über mich, die erzählt, ich hätte meine Kinder getötet, weil mein Mann mich betrogen hat. Wer hat dieses Gerücht in die Welt gesetzt?“
Seit 10.000 Jahren ist Medea Teil des europäischen Kulturerbes, zahlreiche Autoren erzählten von ihr. Euripides hat ihr 431 v.Chr. hat ein Denkmal gesetzt, das noch heute unser Bild von Medea bestimmt: Sie ist die rasende Frau, die aus Wut über den Betrug ihres Mannes ihre beiden Kinder tötet. Aber warum ist diese Darstellung so übermächtig? Was sagt ihr Bewahren über unsere Gesellschaften und Zustände aus? Wie würden wir heute Medeas Geschichte erzählen? Die Geschichte einer Migrantin, einer Mutter, einer unabhängigen Frau? Wäre es eine albanische Geschichte? Mit „Thinking about Medea“ erzählen Beatrice Fleischlin und Labinot Rexhepi ihre eigene Version. Es ist der Versuch einer Ermächtigung und zugleich die Befreiung von einer jahrtausendlangen Wiederholung.
Nach der erfolgreichen Produktion „Love. State. Kosovo“, die im November 2013 auch im Theater Tuchlaube Aarau erfolgreich gastierte, sind die Schweizer Performerin und Autorin Beatrice Fleischlin und der kosovarische Tänzer Labinot Rexhepi in THINKING ABOUT MEDEA erneut zusammen auf der Bühne. Unterstützt werden sie von dem albanischen Choreographen Gjergj Prevazi und der Schweizer Band Heligonka. Gemeinsam nähern sie sich dem Mythos Medea und finden überraschende, humorvolle und sehr heutige Interpretationen. „Thinking about Medea“ ist eine schweizerisch-albanische Koproduktion, wurde grösstenteils in Albanien erarbeitet und dort im September 2015 am Nationaltheater “Teatri kombëtar” in Tirana uraufgeführt.
Im Anschluss an die Vorstellung am 8. April 2016 findet ein Publikumsgespräch mit Ylfeti Fanaj statt, Vorstandsmitglied der Organisation second@s plus und Luzerner Kantonsrätin.
Bereits zum zweiten Mal kooperieren wir im Rahmen eines innovativen Vermittlungsformates mit Kanal K zusammen. Der Sender begleitet die Produktion im Vorfeld und überträgt die Aufführung vom 8. April 2016 und das anschliessende Publikumsgespräch live im Radio.
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Die wohl älteste Beschäftigung mit der Geschichte der „Medea“, einer Frauengestalt aus der griechischen Mythologie, stammt vom griechischen Dramendichter Euripides. In seinem etwa 431 v. Chr. entstandenen Drama „Medea“, entnimmt Euripides das Thema der „Argonautensage“ aus der griechischen Mythologie.
Das ist die Geschichte von Jason, seinen Mitstreitern, den Argonauten sowie der Jagd nach dem „Goldnen Vlies“. Medea verliebt sich in Jason, hilft ihm, aus seinen Abenteuern immer heil herauszukommen, heiratet ihn, bekommt mit ihm Kinder, wird aber letzten Endes von Jason wegen einer Jüngeren verlassen.
Obwohl Jason mit Medea seit Jahren glücklich verheiratet war und sogar zwei Söhne mit ihr hatte, schien ihm sein familiäres Umfeld nicht mehr zuzusagen. Er wollte standesgemässe, adelige Kinder, die – im Gegensatz zu seinen Söhnen aus der Verbindung mit Medea – erbberechtigt wären. Also entschied er sich, Medea durch Kreon, König von Korinth, des Landes verweisen zu lassen, dessen Tochter Glauke zu ehelichen und mit ihr ein neues Leben zu beginnen. Dafür, dass Medea ihm in der Vergangenheit in zahlreichen Fällen aus der Klemme geholfen hatte, brachte Jason mit dem Tunnelblick des Frischverliebten nur gleichgültiges Achselzucken auf – was sich rächen sollte. Selbstverständlich ist Medeas Rache fürchterlich. Jasons Geliebte, deren Vater König Kreon und ihre beiden Söhne werden von ihr gemeuchelt, Jason aber bewusst in Kummer, Schmerz und Verzweiflung am Leben gelassen. Anzumerken wäre hier, dass der doppelte Kindsmord in der griechischen Mythologie, der „Argonautensage“, nicht nachgewiesen ist. Vielmehr wurde dieser Mord erst später (etwa 431 v. Chr.) von Euripides (etwa *480 v. Chr. bis °407 v. Chr.) in dessen Tragödie „Medea“ als dramaturgisches Handlungselement aufgenommen.
Hintergrund: Die Gender-Frage in Albanien
Die Lebensweise in Albanien kontrastierte über viele Jahrzehnte deutlich die dynamischen Entwicklungen, die in anderen Teilen von Europa stattfanden. Dieser Kontrast bestand in der relativen Stabilität, der hohen Gleichförmigkeit und den verhältnismässig geregelten Lebensbahnen im „Osten“ bis zur Wende und dem schnellen Wandel und der zunehmenden „Unordnung“ im Leben der Bevölkerung im „Westen“. Die albanische Gesellschaft war allgemein durch traditionelle patriarchale Denkmuster geprägt, die Jahrhunderte hindurch fortbestanden und verteidigt wurden. Eine zentrale historische Erscheinung in den Balkangebieten war die Verwandtschaftsgruppe – ein dichtes Netzwerk von Verwandten und Freunden. Da dieses Verwandtschaftssystem netzwerkartig angelegt war, wurde auch die Heirat als ein Weg benutzt, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu stärken und zu erweitern. Neben der Ehe existierten in der traditionellen albanischen Lebensweise keine anderen privaten Lebensformen. Beziehungen vor der Ehe, gleichgeschlechtliche Partnerschaften und ausserehelichen Lebensgemeinschaften sind Phänomene, die der albanischen Gesellschaft bis nach der Wende und in gewissem Grad bis heute fremd waren bzw. sind.
Mit der kommunistischen Machtübernahme unter der Führung von Enver Hoxha 1944 wurden die traditionellen Muster von Familie und Verwandtschaft in Frage gestellt, beziehungsweise deren Bedeutung reformuliert. Die Kollektivierung des Bodens und die dadurch ausgelöste Urbanisierungswelle, die gesellschaftsverändernde Rolle der Urbanisierung, der Eintritt der Frauen in die industrielle Welt, die Bemühungen um die Zurückdrängung patriarchaler Elemente und die zunehmende Gleichberechtigung der Geschlechter hatten einen grossen, wenn auch nicht determinierenden Einfluss auf die Lebensweise der Menschen.
Radikale Transformationen der sozialen Beziehungen begannen in Albanien erst nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und dem Ende der langjährigen Isolation im Jahre 1991. Aber nach wie vor ist die Ehe in Albanien immer noch mit einem Verpflichtungscharakter verbunden und die Beziehungen vor der Ehe werden meistens mit dem Ziel geführt, in eine Ehe zu münden. Dies gilt besonders für die Frauen, deren traditionelle Rolle in Albanien nach wie vor die der Ehefrau und Mutter ist. Das Sicherheitsbedürfnis, das dem weiblichen Stereotyp entspricht, taucht oft im Gespräch um "die ideale Beziehung" auf. Ab einem gewissen Alter (für viele schon ab dem 30. Lebensjahr) wird es für eine unverheiratete Frau schwierig, überhaupt noch eine Beziehung zu finden. Kinderlose Frauen sind eine Seltenheit.
In der Schweiz, wie in vielen westlichen Ländern, fand seit den 60er Jahren ein tief greifender Wertewandel statt. An die Stelle des Erfüllens gesellschaftlicher Pflichten und Erwartungen rückte die Selbstentfaltung. Hier ist von der Ehe mit einem Verpflichtungscharakter im alten, traditionellen Sinn – sprich nach dem bürgerlichen Ehemuster – weniger zu sehen. Das selbstentfaltungsbetonte Individuum empfindet das bürgerliche Ehemuster und die damit verbundenen Rollenzuweisungen nicht mehr als verpflichtend, wenn diese Institution die Befriedigung eigener Ansprüche nicht zulässt. Beziehungen werden auch nicht unbedingt mit der Absicht eingegangen, eine Ehe zu begründen. Da beide Geschlechter einen Beruf ausüben und eignes Geld verdienen können, hat die Ehe für die Frau nicht mehr die Garantiefunktion für materielle und soziale Sicherheit. So leben viele Menschen im Westen in losen Beziehungen, als Singles oder in seriellen Monogamien.
Spricht man mit jungen Menschen in den Städten Albaniens oder dem Kosovo, stellt man schnell fest, dass die Meinung der Stammfamilie nach wie vor eine sehr wichtige Rolle spielt bei den Entscheidungen, die Menschen für sich treffen. Es ist ein sehr schwieriges Vorhaben, den traditionellen Wertevorstellungen der Familie zu entkommen. Abweichende sexuelle Orientierung wird im Untergrund gelebt.
Beim letzten Besuch von Beatrice Fleischlin im Herbst 2013 erzählte eine der wenigen (in der Zwischenzeit geouteten) Lesben im Kosovo, dass sie, als sie etwas über Zwanzig war, für eine internationale Firma gearbeitet hatte und so den Lebensunterhalt für sich und ihre Eltern und Geschwister verdiente. So gesehen hätte sie eigentlich als Familienoberhaupt akzeptiert werden müssen. Ihr älterer Bruder aber kontrollierte sie und bestimmte, wann sie abends zu Hause zu sein hatte. Obwohl für sie diese Situation unerträglich wurde, konnte sie sich lange nicht entschliessen von zu Hause auszuziehen, da dies einem Bruch mit der Familie gleichgekommen wäre.
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Mit: Beatrice Fleischlin, Labinot Rexhepi, Stefan Haas, Jesco Tscholitsch.
Künstlerische Leitung: Beatrice Fleischlin und Gjergj Prevazi.
Choreografie: Gjergj Prevazi.
Dramaturgie und Künstlerische Mitarbeit: Eva Böhmer.
Musik: Heligonka (Stefan Haas, Jesco Tscholitsch).
Bühne & Lichtdesign: Nico de Rooij.
Kostüme: Diana Ammann.
Assistenz: Klodoaldo Lamcaj.
Produktionsleitung: produktionswerkstatt, Larissa Bizer.
Eine Koproduktion mit Kaserne Basel und Albania Dance Meeting, Tirana.
Gefördert durch den Fachausschuss Tanz und Theater BS/BL, Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung, Szenenwechsel – Robert Bosch Stiftung, Fondation Nestlé pour l’Art, Ernst Göhner Stiftung, Stanley Thomas Johnson Stiftung, Migros-Kulturprozent, Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Basel (GGG).