Spuren
Generationenclub Bundt

Seit fast einem Jahr treffen sich 19 Menschen aus sieben Herkunftsländern und vier Generationen, die vor allem eines verbindet: die Lust am gemeinsamen Theaterspiel. Mit den beiden Theaterpädagoginnen Carine Kapinga und Deborah Imhof proben sie an einem Stück über Rituale und ihre verbindende Kraft.
Ein kleiner Laden, vielleicht ein paar Tische, ein Ort zum Verweilen. Auftanken. Hier trifft man Leute und lernt sie kennen, inmitten von Steinen. Wie starte ich meinen Tag? Routine oder Rituale? Wir versuchen, den wahren Chef zu finden, und drehen festgefahrene Rollenmuster um: Jede Stimme zählt. Auf der Suche nach den Meilensteinen im Alltag setzen sich die Spielerinnen und Spieler mit ihren unterschiedlichen Kulturen auseinander. „Setze einen Stein auf deinen Kopf, und wenn er oben bleibt, dann passt er zu dir.“
Gemeinsam mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern untersuchen die künstlerischen Leiterinnen Carine Kapinga und Deborah Imhof Rituale, die für sie bewusst oder unbewusst die Funktion haben, in der ‚chaotischen’ und als krisenhaft empfundenen Gegenwart vielleicht eine (kulturelle) Ordnung herzustellen. Ausgangspunkt sind die persönlichen Lebensgeschichten der Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Sie bringen ihre Erfahrungen ein und stellen sie zur Verfügung. In diesem Sinne sind sie die Expertinnen und Experten, die den „Stoff“ für die Proben mitbringen, bzw. immer schon in sich tragen.
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Die künstlerischen Leiterinnen
Carine Kapinga wurde 1986 in Kinshasa in der Demokratischen Republik Kongo geboren. Nach ihrer Matura studierte sie zunächst Medizin und später Wissenschafts- und Technologieentwicklung in ihrer Heimatstadt. Daneben studierte sie Tanz und Schauspiel. In der Schweiz wirkte sie seit 2012 als Schauspielerin und Spielleiterin in diversen Produktionen des Theater Maxim Zürich mit und unterrichtet Tanz und Musik. Seit Herbst 2015 absolviert sie eine Ausbildung zur Theaterpädagogin an der Zürcher Hochschule der Künste. 2014 wirkte sie in dem Film „Schweizer Helden“ mit.
Deborah Imhof wurde 1990 in Ittigen/BE geboren. Erste Theatererfahrungen sammelte Deborah Imhof im Jugendclub vom Schlachthaustheater Bern. 2008 stiess sie zum Kolletiv Sans Cible. Im Rahmen der Ausbildung zur Theaterpädagogin an der Zürcher Hochschule der Künste erarbeitete sie mit Katarina Tereh eine Weiterführung von einem Modulprojekt mit Asylsuchenden und Sans Papiers „WG BABYLON II“, welches im Theaterhaus Gessnerallee aufgeführt wurde. Ihr Abschlussprojekt „Sex bezogen Sex beziehen“ – eine theatrale Recherche über Prostitution, konnte sie im Provitreff am Sihlquai zur Aufführung bringen. Von Januar – Juni 2015 entwickelte sie im Theater Tuchlaube Aarau mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern aus dem Integrationsprogramm der Kantonalen Schule für Bildung ein Projekt.
Rituale
Rituale sind mehr als Gewohnheiten oder Traditionen. Rituale schaffen Struktur in einer zufälligen Welt. Sie stabilisieren unsere Wahrnehmung. Einst dienten Rituale dazu, Ordnung und Sinn in einer Welt voller Unberechenbarkeit zu schaffen. So entstanden die ersten Rituale, aus denen wiederum die Religionen hervorgingen. Rituale sind aber mehr als nur magische Handlungen. Sie wirken festigend für soziale Systeme. Rituale drücken Zusammenhänge aus, sind der Kitt der Gemeinschaften, müssen aber nicht ausgesprochen werden.
In der säkularisierten modernen Multioptionsgesellschaft haben Rituale auf den ersten Blick sehr viel weniger Gewicht als noch vor 50 Jahren. Auch auf der individuellen Ebene sind anstelle der traditionellen (und ritualisierten) Familienverbände neue Formen des Zusammenlebens getreten, die immer wieder neu ausgehandelt werden müssen.
Zugleich aber ist zu beobachten, dass die Sehnsucht nach Verbindlichkeit in einer unübersichtlichen globalisierten Welt mit einer Renaissance von Ritualen einhergeht. Denn wer wie wir die Wahl hat, hat auch die Qual und droht, die Orientierung zu verlieren.
Rituale sind keine anthropologische Konstanten, sondern dynamische Prozesse, die sich entlang der historischen und sozialen Entwicklungen modifizieren und verändern. Für heute 20-jährige haben die Rituale ihrer Grosseltern bestenfalls nostalgischen Reiz. Dafür haben sich in den Jugendkulturen neue Formen kultureller Praxis ausgebildet, die für die Älteren unverständlich bleiben, wie die Riten der Urvölker.
Hinzu kommt, dass die Migrationsgesellschaft Konfliktpotentiale birgt, die ihren konkreten Ausdruck in unterschiedlichen kulturellen Praktiken finden. Die grösste Herausforderung für unsere zunehmend durch die Migration geprägten Gesellschaften wird in Zukunft sein, die unterschiedlichen kulturellen Prägungen, die in den Ritualen sichtbar werden, so zu moderieren, dass sie bei aller Unterschiedlichkeit kein Integrationshindernis darstellen.
Damit dies gelingen kann, bedarf es von allen Beteiligten nicht nur ein Mindestmass an Toleranz gemäss dem Diktum Voltaires, dass jeder nach seiner Facon selig werden möge. Es braucht darüber hinaus eine elementare Neugier gegenüber ‚fremden’ kulturellen Praktiken.
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Mit: Israfilou Ayeva, Azieb Berhane, Emily Chung, Henriette Fuhrich, Ursula Hunziker, Zahra Huseini, Mahta Kibrom, Kathrin Mauchle, Mireille Oesch, Maryam Rhaimi, Rosa Maria Rizzo, Ruth Rüdlinger, Catherine Rothhardt, Regula Schmid, Helga Starcevic, Luisa Raquel Mendes Teles, Serge Uberto, Hagos Yemane und Denise Zeller Xenaki.
Künstlerische Leitung: Carine Kapinga und Deborah Imhof.
Licht und Technik: Edith Szabo.
Eine Koproduktion des Theater Tuchlaube Aarau mit szenart und Theatertage Aarau. Mit freundlicher Unterstützung der Integrationsstelle der Stadt Aarau, der AVINA Stiftung, der Paul Schiller Stiftung und der Oertli Stiftung.