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Ágota Kristóf wurde 1935 geboren, wuchs in der ungarischen Kleinstadt Kőszeg auf und kam mit 14 Jahren ins Internat. 1956, nach der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstandes, floh sie zusammen mit ihrem Mann, der bis zu ihrem Abitur ihr Geschichtslehrer gewesen war, und ihrer viermonatigen Tochter in die Schweiz. Kristóf fand Arbeit in einer Uhrenfabrik und erlernte die französische Sprache, in der sie seit den 1970er Jahren ihre Bücher und Hörspiele schrieb. Nach fünf Jahren im Exil verliess sie ihren Mann, gab ihre Arbeit in der Uhrenfabrik auf und besuchte Sommerkurse an der Universität Neuenburg. Kristófs Werke sind in mehr als 30 Sprachen übersetzt worden. Sie lebte bis zu ihrem Tod 2011 in Neuenburg.
Wir zeigen „Das grosse Heft / Le grand cahier“ in einer deutschsprachigen Version und einer französischsprachigen Version für Französischlernende ab 16 Jahren.
Ijoma Mangold über „Das grosse Heft“
„Am Anfang bringt die Mutter die Zwillingsbrüder aufs Land zu ihrer Grossmutter. Die Grossmutter schimpft sie „Hundesöhne“ und sagt, sie lägen ihr auf der Tasche. Doch die zwei Kinder, die ununterscheidbar im „Wir“ der Erzählstimme verschmolzen sind, lassen sich davon nicht verschrecken. Sie sind zu klug, um in dieser Welt auf Liebe und Mitgefühl zu hoffen. Doch woher nehmen sie ihre Klugheit? Woher haben sie dieses pessimistische Wissen? (...) In dieser Welt erlegen sich die Zwillingsbrüder, diese unsentimentalen Überlebensprofis, „Übungen zur Abhärtung des Körpers“ und „Übungen zur Abhärtung des Geistes“ auf, und sie vergessen auch nicht, sich einer „Übung in Grausamkeit“ zu unterziehen. Ein unerbittlicher Lehrplan für die Schule des Lebens. Der eiskalte Schauder, der einem beim Lesen von Ágota Kristófs unmenschlich grosser Kunst den Rücken runterläuft, hat damit zu tun, dass es sich um zwei kleine Jungs handelt, die sich mit frühreifer Hellsicht für die Schlechtigkeit der Welt wappnen. Die Verfasserin hat ihren eigenen desillusionierten Blick ihren Protagonisten mitgegeben. Es gibt keine kindliche Unschuld mehr. Aber die Kinder werden darüber keineswegs zu Monstern. Soweit es ihr eigenes Überleben erlaubt, heben sich die Zwillinge von ihrer Umwelt sogar durch ein gewisses Mitgefühl für andere ab. Die Welt ist ein Abgrund, aber wenn man das weiss und kaltblütig genug ist, dann kann man sich in der steilen Felswand über dem Abgrund einrichten.“ (Die Zeit, 9. August 2011)
Über die Musik
Die Kompositionen von György Kurtág und Béla Bartók, die ungarische und rumänische Volksmusik sowie die freien Improvisationen illustrieren und konterkarieren die Brutalität der Parabel auf eine verlorene Kindheit im Angesicht des Krieges.
György Kurtág (*1926), ungarischer Komponist und Pianist, gilt als der Aphoristiker des 20. Jahrhunderts. Einen Meister der Konzentration und Miniaturen hat man ihn genannt. Er selbst sagt, er habe nie etwas anderes als seine Autobiografie vertont. Alles, was ihm wichtig gewesen sei, habe er in seine Musik oder in deren Texte hineingeschrieben. Ein zentrales Werk seines Oeuvres sind die „Kafka-Fragmente“. Der 1985 ohne vorgefassten Plan begonnene Zyklus wurde 1987 fertiggestellt und besteht aus vierzig Einzelstücken. Manche dauern nur wenige Sekunden. „Ihre Welt aus knappen Sprachformeln, erfüllt von Trauer, Verzweiflung und Humor, Hintersinn und so vielem zugleich, liess mich nicht mehr los.“ Die Texte sind aus dem Tagebuch Franz Kafkas sowie aus posthum veröffentlichten Briefen und Erzählungen. Sie rühren an existenzielle Fragen des Schriftstellers, die sich Kurtág zu eigen gemacht hat.
Béla Bartók (1881–1945), ungarischer Komponist, Pianist und Musikethnologe, befasste sich neben dem Schreiben von Musik mit dem systematischen Sammeln von Volksliedern. Er unternahm dafür Reisen durch Ungarn, Rumänien, die Slowakei, Serbien, Siebenbürgen und den Vorderen Orient. Auf der Suche nach der originären Musik der ländlichen Bevölkerung sammelte er über 10000 Lieder. Die Melodien und Texte wurden während dieser Feldforschung den Bauern abgehört, phonographiert oder direkt vor Ort in Notenschrift gebracht. Bartók entdeckte dabei eine uralte Volksmusik, die anders klang als die in den Städten verbreitete Kunstfolklore, die Franz Liszt und Johannes Brahms beeinflusst hatte. Auf Grundlage dieser „Bauernmusik“, wie er sie selbst bezeichnete, kreierte er seinen neuartigen Personalstil. Zu den von diesen Forschungsreisen inspirierten Werken gehören „Sechs rumänische Volkstänze“, Sz.56, BB 68. Komponiert 1915, basieren sie auf Melodien aus Transsilvanien. Mit „44 Duos für zwei Violinen“, Sz. 98, BB 104, die 1931 entstanden, komponierte Bartók Stücke, die sich für Anfänger und zur Einführung in die Musiksprache der Moderne eignen. In den musikpädagogischen Miniaturen verarbeitete er authentische Folklore, Hochzeits-, Wiegen-, Ernte- und Soldatenlieder, archaische Melodien und Tanzweisen, die noch nichts vom Dur-Moll-System wissen, sondern geprägt sind von einer unregelmässigen Rhythmik und der tonalen Erweiterung hin zu alten modalen Skalen.
Die Mitwirkenden
Astride Schlaefli arbeitet als freischaffende Regisseurin, Performerin, Musikerin und Komponistin in den Bereichen Theater, Musiktheater und Performance hauptsächlich mit dem Collectif barbare, aber auch mit anderen Gruppen, in der Schweiz und im Ausland. Sie erhielt das Klavierdiplom an der Hochschule der Künste Bern mit Vertiefung in zeitgenössischer Kammermusik und instrumentalem Theater und absolvierte ebenda ein Musiktheaterstudium. Eine mehrfache Zusammenarbeit als Musikerin, Komponistin und Performerin verbindet sie mit Mirjam Neidhart und Trix Bühler. Zuletzt realisierte sie in Koproduktion mit dem Theater Tuchlaube Aarau und argovia philharmonic „Die Geschichte vom Soldaten“ in der Alten Reithalle Aarau.
Irina Ungreanu wurde 1984 in Bukarest (Rumänien) geboren und wuchs in Zürich auf. Sie studierte Gesang an der Zürcher Hochschule der Künste. Ihre Interessen gelten insbesondere der alten und der neuen Musik, dem Lied- und Oratorienrepertoire, der freien Improvisation und der rumänischen Volksmusik, welche sie seit ihrer Kindheit begleitet. Irina Ungureanu tritt im Konzert, in offenen Projekten und im Musiktheater auf und wirkt regelmässig in Uraufführungen mit. In mehreren Theaterproduktionen war sie für die musikalische Leitung zuständig und gestaltete einige Lesungen mit Musik u.a. zusammen mit dem Schauspieler Hansrudolf Twerenbold.
Vera Kardos wurde 1980 in Ungarn geboren und wuchs in der Schweiz auf. Sie ist als Musikerin im Theaterbereich und in der Neuen sowie Alten Musik tätig. Das Violinstudium absolvierte sie an der Guildhall School of Music and Drama in London, in Bern und in Luzern, wo sie 2009 das Konzertdiplom mit Auszeichnung abschloss. Zusammen mit Linda Mantcheva (Barockcello) und Marianna Henriksson (Cembalo) gründete sie 2012 das Trio Bar1 und spielt regelmässig mit Orchestern wie Elbipolis (Hamburg), Anima Eterna (Brugge). Vera Kardos ist Gründungsmitglied des Musiktheaterensembles DieOrdnungDerDinge, mit dem sie in den letzen Jahren anderem im Guggenheim Museum Bilbao, im Trafó Budapest und am Schauspielhaus Zürich gastierte. Das Ensemble wird vom Hauptstadtkulturfonds Berlin gefördert.
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