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Das gelebte Leben ist ein Geschenk. Das gelebte Leben ist eine Zumutung. Das gelebte Leben hat einen starken Einfluss auf uns. Die „Eroica“-Symphonie setzt diese Widersprüchlichkeit und Zweischneidigkeit in Töne um und oszilliert zwischen Verklärung und Zweifel. Sie tut damit das, was wir mit der unfassbaren Tatsache des puren Lebens nur tun können. In ihren kaleidoskopartigen Bildern und Szenen orientiert sich die Inszenierung, die die ganze Weite der Reithalle nutzt, an der Musik: Die Vierteiligkeit der Symphonie gibt die Struktur der szenischen Umsetzung vor. Inhaltlich bringt „Eroica“ unterschiedliche Gruppen aus unserer Gesellschaft zusammen, die sich gemeinsam mit dem Begriff des Heldischen auseinandersetzen: Pensionierte und Studierende, Professionelle und Nicht-Professionelle, Instrumentalisten der klassischen Musik und Akteure des zeitgenössischen Theaters. Die Darsteller zwischen 60 und 80 Jahren erforschen ihren eigenen Heldenbegriff und loten das Heldenhafte im alltäglichen Leben aus.
Zur Musik:
Bo Wiget nimmt eine komponierte Interpretation von Ludwig van Beethovens 3. Symphonie vor. Er bearbeitet Beethovens Symphonie für neun Musiker von argovia philharmonic: Oboe, Flöte, Horn, Klavier/Hamonium/Melodica, 2 Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabass. Es entsteht eine «beethoven-nahe» kammermusikalische Umsetzung mit Bezügen zu zeitgenössischen Klangwelten bis hin zu volkstümlicher Musik. Konventionelles Spiel und experimentelle Techniken wechseln sich ab; dabei bleibt Beethovens Werk in seiner Struktur und in weiten Teilen musikalisch erhalten und erkennbar.
Bo Wiget im Gespräch mit Iris Karahusić, Dramaturgin des argovia philharmonic:
Heldentum vs. Reduktion
Iris Karahusić: Die «Eroica» erzählt von Heldentum. Zahlreiche Momente im Werk Beethovens äussern sich mit einer heroischen Klangsprache. Wie hält die Umarbeitung und Reduktion der Eroica das Heldenhafte an der 3. Symphonie aufrecht? Kann sie das?
Bo Wiget: Vieles, was wir heute als „heroische“ Musik empfinden, finden wir in Beethovens Musik. Zum Beispiel die charakterstarken und tragenden Rollen der Blechbläser. Aber Beethoven hat das nicht erfunden. Es gab in der Zeit um 1800 einige Komponisten hauptsächlich in Frankreich, die versucht haben, der Französischen Revolution mittels Musik das Bild einer heroischen Zeitenwende zu malen.
Der Held – falls es denn einen gibt, der hinter der Symphonie steht – ist kein steinernes Denkmal, keine unumstößliche Herkulesskulptur. Es handelt sich um eine zerrissene Figur, die weiche Seiten hat, schmerzhafte, traurige, witzige und auch erhabene, stolze. Das sind alles Adjektive, die auch auf Werke der Kammermusik Beethovens (zum Beispiel Streichquartette) zutreffen. Und unsere Version ist ja eine kammermusikalische.
Klassik vs. Moderne
Iris Karahusić: Beethoven zählt zu den grossen Klassikern der Musikgeschichte. In der Neuinterpretation der «Eroica» aber werden Elemente der modernen Kompositionstechnik, die u.a. von Schönberg inspiriert worden sind, eingesetzt. Wie verbindet man als Komponist die Klassik und Moderne? Gehört sich das?
Bo Wiget: Sich eines Klassikers anzunehmen hat ja in allen Künsten Tradition. Schönberg und Webern und viele andere Komponisten haben Werke von Bach oder Mahler bearbeitet, mal vergrößert, mal verkleinert. Ulrich Plenzdorf hat Goethe überschrieben, Martin Kippenberger hat Géricaults Floß der Medusa nachgestellt. Es gibt tausende von Beispielen i allen Künsten. Immer entsteht etwas Neues, das mit dem Original mal mehr, mal weniger zu tun hat. Das Schöne an allen ist, dass es sich ja nie um eine Zerstörung handelt, denn das Original bleibt ja bestehen und kann jederzeit gesehen, gelesen, gehört werden. Vielleicht ist es eine Anmaßung, vielleicht eine Bereicherung. Um die Rezeption haben sich aber die KünstlerInnen nicht zu kümmern.
Für mich heißt, sich ein klassisches Stück vorzunehmen, es mit meinen heutigen Komponisten-Ohren zu hören und zu versuchen, einen mir wichtig erscheinenden Aspekt zu verstärken, hervorzuheben. Melodien schweifen ab, rhythmische Elemente wiederholen und überschlagen sich, plötzlich bleibt die Symphonie auf einem atonalen Klang stehen. Im dritten Satz schleichen sich Fremdzitate ein, im Finale mausert sich das Ensemble kurzzeitig zu einer Czardas-Bande....
Musik vs. Theater
Iris Karahusić Wo liegen die Herausforderungen im Arrangieren/Bearbeiten/Komponieren für Theatermusik (im Vergleich zu reiner Konzertmusik)? Welche Funktion hat die Musik zu erfüllen, die im Konzert wegfällt? Inwiefern war die Inszenierung schon bei der Bearbeitung der Musik präsent?
Bo Wiget: Das Eroica-Projekt ist eine Einladung, mich mit Beethoven und dem Kosmos, der sich um seine Person und sein Werk in den letzten 200 Jahren gebildet hat auseinander zu setzen. Als Musik- aber auch als Theaterprojekt.
Am Theaterprojekt reizt mich, dass Musik so um einige Dimensionen erweitert werden kann: Der Raum, Bewegung, DarstellerInnen kommen hinzu. Das sind allerdings Elemente, die der Musik ohnehin schon immanent sind, die man vielleicht etwas vergisst, wenn man Musik im Kopfhörer hört. Musik wird von sich bewegenden Menschen in Räumen ausgeführt, oft auf einer Bühne. Bei unserem Projekt werden den MusikerInnen noch weitere, sich im Raum bewegende DarstellerInnen zur Seite gestellt. Die Tentakel der Musik werden verlängert und greifen sich den ganzen Raum, die ganze Reithalle.
Musik ist viel weniger eindeutig lesbar, als eine menschliche Geste oder ein (Bühnen, Kostüm-)Bild. Darin liegt ein besonderer Reiz meiner Arbeit: Die zum Teil extrem dichte Komposition eines – ich glaube das kann man unbestritten sagen – Genies, so aufzulösen, dass szenische Bilder möglich werden. Diese Bilder sind eine Art assoziativer Resonanzraum, in welchem sich 200 Jahre „Ideenkunstwerk“, 200 Jahre Beethovenrezeption und eine ganze Menschheit lang anhaltende Auseinandersetzung mit Helden und Heldwerdung Ausdruck finden können.
Bei der Bearbeitung habe ich immer die Reithalle, die neun MusikerInnen und den sogenannten Bewegungschor (bestehend aus Leuten, die alle älter sind als Beethoven geworden ist) im Kopf gehabt. Und wenn ich irgendwo stärker eingreifen wollte, habe ich das immer mit dem Team besprochen, die meine Ideen bestärkt und mit ihren eigenen meine Bearbeitung wiederum beeinflusst haben.
Hochachtung vs. Eingriff
Iris Karahusić: Darf man ein solch bedeutendes Werk wie Beethovens Eroica verändern? Wo liegen die Grenzen? Wie gelingt es, in das Werk einzugreifen und den Komponisten trotzdem in Ehren zu halten?
Bo Wiget: Darf man in einen Oldtimer einen neuen Motor einbauen? Darf man Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ auf einem Konzertflügel spielen? Es gibt KünstlerInnen, die wollen, dass ihr Werk nur so gespielt wird, wie sie es aufgeschrieben haben. Ich denke, dass das für gewisse Werke der Kunst, auch der Musik vielleicht nicht falsch ist. Es ist vielleicht sinnvoll wenn man die Bilder von Ferdinand Hodler nicht auf dem Kopf aufhängt, er hat sie sicher nicht so gedacht. Aber vielleicht wäre es ja toll – nur für einen Moment lang – die Hodler-Bilder neben die von Georg Baselitz zu hängen und zwar beide verkehrt rum; Hodler auf dem Kopf und Baselitz „richtig“ rum. Im zweiten Satz (Marcia funebre) der Eroica spielen wir ein paar Takte rückwärts, weil ich beim Untersuchen von Beethovens Werk auf mehrere rhythmische und melodische Momente gestoßen bin, die diesen Trauermarsch so zögernd machen, als hätte der Komponist die Melodie nochmals rückwärts spielen wollen. Und trotzdem geht es immer vorwärts. Das hat einen verblüffenden Effekt und schafft eine Art irritierende Leerstelle, die wieder den erwähnten assotiativen Resonanzraum zum Schwingen bringen kann und zwar bei jeder ZuschauerIn/ZuhörerIn einzeln.
Zwischen die vier Originalsätze habe ich sogenannte Musikinseln gesetzt. Das sind Stücke, die einen ganz anderen Charakter haben. Es sind eher aleatorisch angelegte Stücke und Spielanweisungen, die die Reithalle in einen Klangraum verwandeln, bei denen sich die MusikerInnen bewegen und Szene und Musik ineinanderfließen können.
Die viersätzige Struktur haben wir behalten. Und die Musik ist mehr als nur wiedererkennbar. Die verkleinerte Besetzung ermöglicht aber vielleicht, die Symphonie wieder etwas anders zu hören. Es gibt von wenigen Werken so viele Aufnahmen wie von der Eroica. Und die sind zum Teil so herrlich unterschiedlich, dass es vielleicht gar nicht so überraschend ist, sie mal in der „Theaterfassung“ zu hören. Und wer sie in der Symphoniefassung hören will, hat ja schon im September die Möglichkeit das heldische Werk mit dem argovia philharmonic in Aarau zu hören. Ich werde mir dieses Konzert nicht entgehen lassen.
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