Das Basler KLARA Theater, international bekannt für seine Inszenierungen über aktuelle Themen, ist nach Südamerika gereist, um ein faszinierendes und zugleich erschreckendes Sozialexperiment zu studieren: Palmsola, eine Gefangenenstadt in Santa Cruz, ist eine von Mauern umgebene Hüttensiedlung, die Ende der 1980er Jahre errichtet wurde. Sie wird momentan von etwa 6.000 verurteilten Verbrechern und Untersuchungshäftlingen, Männern und Frauen, bewohnt.
In ihrem Theaterabend stellen Regisseur Christoph Frick und sein gemischtes Ensemble aus der Schweiz und aus Bolivien Fragen, die auch uns betreffen: Was sind Recht und Gerechtigkeit – auf dem Papier und in der Praxis? Nach welchen Prinzipien organisieren sich Gemeinschaften, wenn es keine staatlichen Institutionen gibt? Wie nehmen Kinder, die in diesem Gefängnis aufwachsen, diese Welt und ihre Gesetzmässigkeiten wahr? Gibt es die Möglichkeit auf ein richtiges Leben im falschen? Und was hat das Ganze mit dem Drogenkonsum in der Schweiz zu tun, einem der grössten weltweit?
Am Samstag, dem 19. Oktober 2019, findet im Anschluss an die Vorstellung ein Publikumsgespräch mit Marcel Ruf, dem Leiter der Justizvollzugsanstalt Lenzburg, statt.
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Der härteste Knast der Welt?!
Palmasola ist die Gefangenenstadt in Santa Cruz de la Sierra, eine von Mauern umgebene Hüttensiedlung, die Ende der 1980er Jahre errichtet wurde. Sie wird momentan von etwa 6.000 verurteilten Verbrechern und Untersuchungshäftlingen, Männern und Frauen, bewohnt, von denen nur 25% überhaupt verurteilt sind. Alle anderen befinden sich in einer sogenannten Präventionshaft. Die Insassen waren bis zum 14. März 2018 mehr oder weniger sich selbst überlassen, an diesem Tag aber gab es eine Großrazzia, die den Alltag der Insassen mit ungemeiner Brutalität auf den Kopf stellte und einmal mehr folgende Fragen dringlich werden lässt: Was sind Recht und Gerechtigkeit – auf dem Papier und in der Praxis? Nach welchen Gesetzmäßigkeiten organisieren sich Gemeinschaften? Wie nehmen Kinder, die in diesem Gefängnis aufwachsen, die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten wahr? Gibt es die Möglichkeit auf ein richtiges Leben im falschen?
Bolivien gilt, trotz wirtschaftlichen Aufschwungs aufgrund von Erdgas- und Erdölförderung im großen Stil, als ärmstes Land Lateinamerikas. Das Gefängnis Palmasola ist ein Spiegel der widersprüchlichen bolivianischen Gesellschaft und wirkt zugleich wie ein Fremdkörper in der Stadtgesellschaft von Santa Cruz. Die Gefängnisanstalt ist ein „Staat im Staat“, das „Innere Ausland“ der Stadt. Die Gefängnisstadt weist aufgrund ihrer juristischen und sozialen Konstruktion Modellcharakter auf, der weit über die soziale Realität Boliviens hinausweist und auch ganz grundsätzliche Fragen aufwirft: Kann sich ein armes Land einen Rechtsstaat leisten? Wie formieren oder deformieren sich Menschen, die sich in einem solchen System behaupten müssen? Wie anpassungsfähig sind sie? Was heisst hier Schicksal bzw. „die sehr einfache, aber überall gültige Tatsache, dass jeder von uns in eine Geschichte hineingeboren wird"? (Hisham Matar).
Palmasola nimmt in der zynischen Rankingliste der „härtesten Knasts“ der Welt seit Jahren zuverlässig einen Spitzenplatz ein. Unerwünschte internationale Prominenz erhielt die Haftanstalt, als im Juli 2015 Papst Franziskus in Palmasola eine Messe hielt und dabei vor unzähligen Journalisten die fatale Überbelegung, die Langsamkeit der Justiz und die allgegenwärtige Gewalt anprangerte. In Palmasola sitzen 70 Prozent der Häftlinge ohne Urteil ein. Viele Häftlinge warten seit Jahren vergeblich auf ein Gerichtsverfahren. Ohne Geld gibt es auch kein Recht. Viele Insassen können sich ihre Entlassung schlicht nicht leisten und tragen so zum Problem der katastrophalen Überbelegung der Anstalt bei. Unter Polizisten sind die Posten im Gefängnis begehrt, da sich ihr schmales Gehalt durch „coima“ (Schmiergeld) vervielfachen lässt. Trotz allem ist es in der Regel ruhig in Palmasola. Für Ruhe sorgen keine staatlichen Aufseher, sondern die «Disciplina», eine Truppe aus Gewaltverbrechern mit roten Aufseher-Leibchen, der ein sogenannter «Präsident» vorsteht. Man weiß als Aussenstehender nicht, wann die Ruhe in ungebremste Gewalt umschlägt.
Trotzdem ist Palmasola kein rechtsfreier Raum, sondern es gelten andere Regeln und Gesetze als in der „normalen Welt“ draussen. Das Gesetz des Stärkeren tritt hier unverstellter zu Tage. Der bolivianische Staat stellt keine Zellen, sondern die Insassen können und müssen sich ihre Unterkünfte mieten, kaufen oder bauen, unter Umständen auch erkämpfen oder erpressen. Die Spannweite reicht von einfachen Pritschen bis zur „Luxuswohnung“ des charismatischen Bandenführers Oti, der vor wenigen Monaten nach einer Razzia in die Gefängnisanstalt in La Paz verlegt und kurz danach auf ungeklärte Weise umgebracht wurde. Palmasola wirkt wie eine gross angelegte, neoliberalen Versuchsanstalt, in der erforscht wird, wer sich mit welchen Mitteln unter widrigsten sozialen Umständen behauptet.
Zur Produktion:
Ziel der dokumentarischen Recherche ist es die Gesetzmässigkeiten zu untersuchen, nach denen das Leben in Palmasola funktioniert, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit unserem Bild von ‚Gefängnis’ abzugleichen und sich von geplanten und überraschenden Begegnungen inspirieren zu lassen. Palmasola steht in dieser Produktion als ein Paralleluniversum zu unserem (europäischen) Leben, zu unserer Werte- und Wirtschaftsordnung. Durch welche Massnahmen werden soziale Spannungen und Aggressionen in Schach gehalten? Wann knallt es und was hat dazu geführt? Sind Freundschaften und Empathie in so einem System überhaupt möglich? Wie durchlässig sind die sozialen Hierarchien? Wer wird zum Anführer und warum? Und wer zum sozialen Verlierer? Verläuft die Wahl zum Gefängnisbürgermeister und zum Gefängnisschatzmeister „korrekt“? Und was heißt überhaupt korrekt? Und inwiefern ist die Struktur von Palmasola vielleicht „nur“ eine verschärfte Variante unserer Gesellschaft? In der Kriminologie gibt es die Theorie, dass Anführer im kriminellen Milieu über vergleichbare Persönlichkeitsstrukturen und Strategien verfügen, wie hohe Kader in der Wirtschaft, nur dass diese sich in einem meist legalen Umfeld bewegen. Jens Weidner, Professor für Erziehungswissenschaften und Kriminologie, baut auf dieser Erkenntnis sein Management- Training für Durchsetzungsstärke bei Führungskräften auf. Was können wir also in diesem Zusammenhang von den Inhaftierten in Palmasola lernen?
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