Im Mittelpunkt des Projektes steht die tragische Lebensgeschichte von Antonio Ligabue, einem der bemerkenswertesten Maler des Art brut, die in der Schweiz ihren Ausgang nahm: Antonio Ligabue wurde 1899 als uneheliches Kind in Zürich geboren. Mit 18 Jahren wird er wegen Verhaltensauffälligkeiten in die psychiatrische Anstalt Pfäfers zwangsinterniert, zwei Jahre später wird er wegen Landstreicherei und Kleinkriminalität aus der Schweiz ausgewiesen und gegen seinen Willen in das Dorf Gualtieri gebracht, den Geburtsort seines vermeintlichen Vaters. Er wird im kleinen Ort schnell zum beargwöhnten Aussenseiter und Sonderling, wohnt jahrelang einsam wie ein Wilder im Wald am Po-Ufer.
Der damals in Gualtieri lebende Maler Marino Mazzacurati entdeckt das Talent Ligabues und sorgt dafür, dass er einem breiteren Kunstpublikum bekannt wird.
Ligabue stirbt am 27. Mai 1965 im Armenhaus von Gualtieri.
Der italienische Autor, Regisseur und Schauspieler Mario Perrotta hat die deutsch-italienische Geschichte für die Bühne adaptiert. Im Monolog verwandelt sich der Schauspieler ohne Maske, ohne Wunden, ohne fehlende Zähne, in den Maler. Die Erzählung entwickelt sich durch die fiktiven Monologe, die Ligabue an die leibliche Mutter, die ihn verlässt, an die Leihmutter, die ihn zurückweist und an die Dorfbewohner in Gualtieri, die ihn verspotten, adressiert. Diese Figuren werden durch die Darstellung des Schauspielers auf der Bühne gezeichnet.
In der italienischen Fassung wird der Monolog vom Autor selbst gespielt, während bei der französischen Fassungen die Darstellung dem Schauspieler Jean Vocat unter der Regie von Mario Perrotta anvertraut wird.
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Antonio Ligabue
Antonio Ligabue wurde 1899 in Zürich geboren. Die Umstände von Kindheit und Jugend liegen, wie vieles in seiner Biographie, im Dunkeln. Seine Mutter, Elisabetta Costa, ein in die Schweiz ausgewandertes Hausmädchen aus Cencenighe, Belluno, stirbt früh. Der Vater ist unbekannt. Ligabue kommt in verschiedene Pflegefamilien, unter anderem in St. Gallen, dann in das Waisenhaus von Marbach, woraus er mit 15 Jahren wegen schlechter Führung gewiesen wird. Mit 18 Jahren wird er wegen Verhaltensauffälligkeiten in die psychiatrische Anstalt Plafers zwangsinterniert, zwei Jahre später wird er wegen Landstreicherei und Kleinkriminalität aus der Schweiz ausgewiesen. Er wird gegen seinen Willen nach Gualtieri gebracht, wo der erste Mann seiner Mutter, Bonfiglio Laccabue, lebt. Zeitlebens wird Ligabue den Stiefvater ablehnen und nennt sich, um sich von dem ihm zugewiesenen Familiennamen Laccabue zu distanzieren, Ligabue. Er wird im kleinen Ort schnell zum beargwöhnten Aussenseiter und Sonderling, wohnt jahrelang einsam wie ein Wilder in einer mit eigenen Lehmskulturen vollgestopften Hütte im Wald am Po-Ufer. Sein plastisches und zeichnerisches Talent setzt er als Plakatmaler für gastierende Schausteller ein, ansonsten verdient er sich den Lebensunterhalt als verspotteter Tagelöhner und Straßenbauarbeiter.
Der damals in Gualtieri lebende Maler Marino Mazzacurati, einer der Gründer der Scuola Romana, sucht ihn in seiner Hütte auf und eröffnet ihm sein Atelier. Ligabue lernt schnell den Umgang mit Ölfarben und andere Techniken. Während der Kriegsjahre ist Ligabue zeitweilig in psychiatrischen Anstalten untergebracht. Er wird als Übersetzer für die Wehrmacht zwangsverpflichtet, was für seine Beliebtheit im Gualtieri der Nachkriegszeit nicht förderlich ist.
1961 hat Ligabue die erste eigene Ausstellung in Rom, die ihn schlagartig über die Grenzen Italiens berühmt macht. Er stirbt am 27. Mai 1965 im Armenhaus von Gualtieri, während gleichzeitig eine Ausstellung seiner Bilder in Reggio Emilia stattfindet. Seitdem etabliert sich sein Ruf als einer der bedeutendsten italienischen Künstler des „Art brut“ immer weiter.
Den Stil Ligabues könnte man als eine Mischung von Henri Rousseau, Vincent van Gogh und dem Expressionismus beschreiben. Bildthemen sind weitgehend Natur- und Jagdszenen, Beute reissende Tiger, bisweilen Landschafts- und Ortsbilder der Po-Ebene um Gualtieri. Auffällig ist die grosse Zahl von eindrücklichen Selbstbildnissen aus immer derselben Perspektive. Ligabue stellt sich oft mit einer Stubenfliege im Gesicht oder auf der Schläfe dar: ein Verweis darauf, dass er sich selbst bewusst war, etwas außerhalb des „Normalen“ zu stehen. Es wird überliefert, dass er sich immer wieder mit Steinen auf eine Stelle an seinem Kopf schlug, wo „die bösen Gedanken“ waren. Diese Wunde ist häufig auf seinen Selbstportraits zu sehen.
„Ich wie Ligabue“
Interview mit Mario Perrotta über das Projekt „Un bès – Antonio Ligabue“ (Corrierre di Bologna, 2. Juni 2013)
Perrotta, wieso „ein Kuss”?
Auf der Bühne erzähle ich nicht Ligabue. Ich verwandle mich in ihn, ohne Schminke, ohne Wunden, ohne fehlende Zähne, mit meiner Körperlichkeit... Ich trete auf die Bühne und bitte eine beliebige Frau um einen Kuss, um etwas Zuneigung. Wir befinden uns am Tag meiner Beerdigung und auch zu diesem Zeitpunkt möchte mir niemand einen Kuss schenken. Von diesem Blickwinkel aus erzähle ich über ein randständiges Leben...
Warten Sie einen Augenblick. Wer war Ligabue für Sie?
Der Dorftrottel. Dies ist, was ich in der ersten von den drei Aufführungen erzähle. Nicht den Künstler beschreibe ich, sondern den Menschen. Einer unter vielen Dorftrotteln, welcher jedoch offensichtlich über eine im Vergleich zu den sogenannten Zurechnungsfähigen interessantere Weltanschauung verfügte, im Vergleich zu jenen, die ihn das ganze Leben lang zum Narren gehalten haben.
Wie sah diese Weltanschauung aus?
In einer Malerei, wo er Tiere darstellt, gelingt es ihm, über die wesentliche unter den Menschen bestehende Beziehung zu erzählen, bestimmt durch die Gewalt und die Machtunterstellung. Die zum Menschengeschlecht gehörigen Individuen zählen zu den wenigen in der Natur, die das Kollektivinteresse gegenüber dem Eigeninteresse nicht beherrschen.
Bei welchen Malereien ist dies erkennbar?
Bei jeder seiner Malereien auf einer störrischen Weise. Er vertraut nicht nur den Gestalten und deren Benehmen seine Nachricht an sondern auch der Farbengewalt. In jenen Bildern sind die Menschen enthalten (und an den Pranger gestellt), welche ihn sein ganzes Leben lang marginalisiert haben. Eine körperliche Marginalisierung, vierzig Jahre lang im Wald, am Flussufer, völlig isoliert (...). Hier erzähle ich über den Mann, der mit neun Monaten von seiner echten Mutter verlassen wurde, von einem Deutsch-Schweizer Ehepaar im Kanton Sankt Gallen erzogen, danach mit 20 Jahren auch aus deren Haus vertrieben, wobei diese ihn nie adoptierten und er daher aus der Schweiz ausgewiesen wurde. Er wurde ein Ausländer ohne festen Wohnsitz. In die Ebene in der Provinz von Reggio Emilia verbannt, die er nie gesehen hatte, unter fremdsprachigen Leuten, die er nicht verstand, wurde er “al todesc” genannt (den Deutschen, im Dialekt).
Wie wurde dieser „Waldmann“ empfunden?
Wie ein Verrückter. Man wusste, dass er da war, dass er tote Tiere aß...Wir sollten Marino Mazzacurati danken, welcher ihn entdeckt und in sein Atelier aufgenommen hat, ansonsten hätten wir über die Existenz von diesem Genie nie etwas erfahren. Ich erzähle über ihn mit seinem Drang nach Verbundenheit, stets enttäuscht, wie eine vom Schicksal gefolterte Gestalt. Er wird mit 60 Jahren berühmt und mit 62 wird die Hand, die er zum malen verwendete, gelähmt .
Sie treten auf der Bühne auf, wobei Sie um einen Kuss bitten... Und danach?
Ich gehe durch sein ganzes Leben, wobei ich live auf der Bühne zeichne. Er sprach zu seinen Tieren, zu den Gestalten seiner Malereien. Er zeichnet die Mutter und fragt sie: wieso weinst Du, wenn Du mich verlassen hast? Die Tatsache, dass man die Gestalten direkt auf der Bühne entstehen sieht, gibt etwas von der Spannung wieder.
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