verdeckt
von Ariane Koch
Theater Marie
inspiriert von "Giftmord" von Kurt Badertscher und "Die Wahrsagerin" von Rösy von Känel

Bild: Andreas Zimmermann
"Sagen wir es so
Ich war mächtig
Es machte durchaus Sinn
Mich möglichst aus dem Verkehr zu ziehen"
Verena Lehner wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Bauersfrau und sechzehnfache Mutter legt in ihrem Hof im Rynetel zwischen Suhr und Gränichen in den frühen Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts Frauen und Männern Karten. Ihr Ehemann war ein Trinker. Sie sorgte praktisch alleine für die Kinder und verdiente zusätzliches Geld, in dem sie kranke und alte Menschen auf ihrem Hof pflegte. Ihr monetäres Kapital häuft sich an und ihr Wissen über die Aargauer Bourgeoisie wächst.
1929 wird Verena Lehner wegen Giftmord an zwei ihrer Kostgänger angeklagt. Es wird Arsen in den Körpern der Opfer nachgewiesen. Das Rattengift. Die Tat soll einige Jahre zurückliegen. Die Indizienlage ist diffus. Die vermeintliche Mörderin leugnet bis zum Schluss. Die Zeitungen berichten beinahe täglich über den Sensationsprozess. Verena Lehner wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Bei der Urteilsverkündung versammeln sich 400 Aarauerinnen und Aarauer, nicht wenige von ihnen Kundinnen der Kartenlegerin, vor dem improvisierten Gerichtssaal im Rathaus.
Ariane Koch, die sich von Kurt Badertschers Buch "Giftmord" (2018) und dem Roman "Die Wahrsagerin" von Rösy von Känel (1936) inspirieren lässt, deckt schreibend Fragmente von Verena Lehners Schicksal aus feministischer Perspektive auf. Erinnerungen an ihr Leben montiert sie mit Gedanken, die sich aus einer heutigen Haltung ergeben. Der Text begibt sich auf die Suche nach einer Erzählung als Macht über die Wahrheit. Eine Redegelegenheit, die Verena Lehner nie hatte.
"Es war mir dann ganz gut gegangen
Wie ich da die Kärtlein legte
Für Greti und Pleti
Welche ganz vernarrt waren ins Wahre
Wie kanns auch anders gewesen sein
Ich hatte nie ein Skrupel
Den Leuten zu bedeuten genau das
Was sie hören wollten"
Podcast "Die Giftmörderin von Suhr"
www.kanalk.ch
Der Journalist und Theaterschaffende Pascal Nater veröffentlicht einen mehrteiligen True-Crime-Podcast. Im Podcast von Kanal K «Die Giftmörderin von Suhr» verwebt er Fakten, Gerüchte und Dokumente über das Leben von Verena Lehner zu einer packenden Audioerzählung. „Mein Podcast befindet sich irgendwo zwischen Hörspiel und Dokumentarfilm für die Ohren“, beschreibt er seine Arbeit. Im Podcast kommen dann auch verschiedene Menschen zu Wort, die die Geschichte Lehners noch heute umtreibt; die Suhrer Dorfbevölkerung, Verwandte aus Gränichen, der Romanautor Kurt Badertscher, die Theaterautorin Ariane Koch oder die Schauspielerinnen, erzählen von ihrer Lesart des historischen Falles.
Der Podcastautor schwärmt von der Arbeit an der Audiogeschichte: „Selten hat mich eine Geschichte derart in ihren Sog gezogen. Die Arbeit am Podcast gibt mir Einblick in eine völlig andere Zeit. Gleichzeitig sind die verhandelten Themen hochaktuell. Eine gleichberechtigte Frau, die die Gesellschaft spaltet und eine Öffentlichkeit, die diese zuerst verehrt und dann verteufelt. Das ist der Stoff, aus dem auch heute die Zeitungsspalten bestehen.“ Die Zusammenarbeit von Podcast und Theaterstück empfindet er als einmalige Gelegenheit. „Als Journalist habe ich selten die Möglichkeit, mich derart tief in die Recherche zu stürzen. Die Auseinandersetzung der Theaterschaffenden kann ich für meinen Podcast nutzen. Das eröffnet mir Zugang zu Menschen, Thesen, Geschichten und Stimmen, die ich für meine Audioerzählung einsetzen kann. Gleichzeitig ist der Podcast auch für die Theatergruppe eine Möglichkeit, zusätzliches Publikum für einen Theaterbesuch
zu begeistern.“
Interview mit Autorin Ariane Koch auf SRF2
www.srf.ch
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Gedanken der Autorin
Ich frugte und war gwunderig warum man täte vergessen
die Menschen so gschwind wo sind von üs gegangen
Wie dräck und stoub man sich vom Hemmli klopft
Also gar nicht mehr kann sagen wie der Hansli zum Beipiel für einer gewesen
Die Menschen einfach gehen und sind gegangen und nämlig für immer
(Aus «What are we if not pigeons II» von Ariane Koch und Sarina Scheidegger)
Ich habe mich in den letzten Jahren bereits mit verschiedenen Aspekten der Frauengeschichte und - unterdrückung auseinandergesetzt. Beispielsweise mit der brutalen Hexenvernichtung in Giswil (Kanton Luzern) im 17. Jahrhundert; als zahlreiche Familien samt kleinen Kindern ermordet wurden, oder durch die Performance «Rosa & Louise – A Feminist Manifesto», eine seit 2013 sich ständig wandelnde, weiterentwickelte Arbeit. Mir ist es ein grosses Anliegen, nicht von einer geographischen, «kulturellen» oder historischen Lücke (zu anderen Frauenschicksalen) zu sprechen, sondern die Aktualität oder die eigene und gesellschaftliche Betroffenheit, Parallelität und unser aller Involviertheit aufzuzeigen.
Das Schicksal der angeblichen Giftmörderin Verena Lehner liegt auf der Schwelle zwischen bereits damals rückständigen Hexenprozessen und der sogenannten aufgeklärten Moderne. Im Gewand eines Justizfalles wird die Aufsteigerin und Wahrsagerin zu Fall gebracht, wie es die Vorlagen von Kurt Badertscher (2018) und Rösi von Känel (1933) zeigen. Dabei sind es diese Aspekte, die mich bei meiner Überschreibung besonders interessieren werden:
Die Perspektive auf Verena Lehner als eine aus ärmlichen Verhältnissen entsprungene Person, die ohne Zutun ihres trinkenden Ehemannes ein Kapital (Vermögen, der Erwerb eines Grundstücks samt Hof, Mitgift für 16 Kinder) kumulierte. Es ist ein Kapital, das sich aus erkämpfter Gütertrennung in Lehners Ehevertrag und aus ökonomisch geschicktem Umgang mit den Ersparnissen ergeben hat, sowie aus ihrem späteren Erwerb als Wahrsagerin, als die sie sehr gefragt gewesen sein muss. Es handelte sich also nicht nur um ein monetäres Kapital, sondern auch um ein Kapital des Wissens, nämlich eines, dass sich daraus ergibt, dass sie über ihre Kund*innen zunehmend Bescheid gewusst haben muss. Wenn man zudem ein Augenmerk auf ihr Können als Wahrsagerin richten, nennen wir es dissidentes Wissen, also ein Wissen, das sich der männerdominierten (Natur-)Wissenschaft und insbesondere dem religiösen Glauben entzieht, so ist es vor allem ein bedrohliches Wissen gewesen. Alles in allem hat Verena Lehner über ein dreifaltiges Kapital verfügt, das sie zur emanzipatorischen Bedrohung für die patriarchale, konservative Gesellschaft gemacht hat.
Auch die Philosophin Silvia Federici hat in ihrem 2018 erschienen Buch die Entstehung des Kapitalismus um die Perspektive erweitert, dass er – wie im marxistischen Sinne beschrieben – nicht nur auf der Ausbeutung kolonialbesetzter Länder und der Industrialisierung beruht, sondern auch auf der Ausbeutung der Frau (und deren Körper). Im Weiteren ist auch die Anklage des Giftmords im Generellen als eine Weiterführung der Frauenunterdrückung zu betrachten, also direkt auf das (historische) Ende der Hexenprozesse folgend und sich um die Jahrhundertwende in der Schweiz und Europa sehr häufend, sowie fast ausschliesslich Frauen betreffend.
Symptomatisch ist, dass Verena Lehner für ihre fleissigen Reproduktions- und Pflegearbeit – die als Frau zwar selbstverständlich zu entrichten war – keine Anerkennung, im Sinne von juristischem Erbarmen empfangen hat. Dennoch will ich sie nicht per se als willenloses und naives Opfer einer männlich-dominierten Gesellschaft darstellen, sondern als insofern kalkulierte Person, als dass sie sich ihrer visionären Macht bewusst gewesen ist und also durchaus für mehr Eigenständigkeit der Frauen (oder Gleichberechtigung) gekämpft hat. Die Wahrsagerei ist ein Weg gewesen, Frauen als auch Männer, sanft und im Rahmen Verena Lehners Möglichkeiten aufzuklären. Ihre Sozialität hat sich nicht nur auf ihre zahlreichen Kinder und den Unterhalt einer Art Altenheims beschränkt, sondern auf alle ihre Tätigkeiten. Sie hat ihr Kapital zu nützen versucht, um die Strukturen zu verändern, aber wie so oft hat sie – als Frau – dazu in einem möglichst unsichtbaren Feld agieren müssen.
Verena Lehner war die im Untergrund agierende Jeanne D’Arc oder Kassandra von Suhr. Sie war mit ihren Heldentaten und Visionen der Zeit voraus, und so haben sich ihre Anhänger*innen – von denen sie zur Zeit ihres Prozesses bereits einige hatte – nicht genügend für sie einsetzen können. Dominierend – auch bei den verfügbaren, historischen Dokumenten – waren nebst den Gerichtsakten, die Medien, die einen eindimensionalen Shitstorm gegen die vermeintliche Giftmörderin abliessen, insbesondere gegen ihre Akkumulation des Kapitals. (Es ist interessant und traurig, dass auch heute viele Frauenrechtler*innen per soziale Medien diskreditiert und bekämpft werden. Eine weitere Machterhaltung des Patriarchats ist stets die Verbindung von der Frau mit der Lüge gewesen.)
Die gesellschaftliche Verbannung von Verena Lehner in ein schattenhaftes politisches Agierungsfeld ist auch eine Verbannung ins Dubiose und somit potentiell Verbotenes. Ihre zunehmende (Wissens- )Macht wurde unterbunden, indem ihr die beiden Giftmorde angehängt wurden, wobei sie als – unter anderem – Pflegerin der Alten und Kranken wenig Motiv gehabt haben kann. Dabei ist zudem zu bemerken, dass man erst in den 1950-er Jahren herausgefunden hat, dass sich dieses Gift (Arsen) beispielweise öfters in den Tapeten von Gebäuden befunden hat und schon nur per Atemwege zu Krankheit und Tod führen konnte.
Das Ziel meiner Dramatisierung wird es sein, Verena Lehner als geheime Heldin des Aargaus zu rehabilitieren. Dabei ist ihr Schicksal ein lokales und nationales, historisches, aber auch zeitloses in einem. Es handelt sich um eine Verteidigungsrede, die aus einem Gefängnis oder einer Gefangenschaft heraus gesprochen wird (tatsächlich und metaphorisch) und zwischen Sie und Ich changiert. Die sich also nicht nur selbst verteidigt, sondern gleichermassen verteidigt wird: Die Suche nach der Aneignung einer Erzählung als Macht über die Wahrheit. Eine Redegelegenheit, die Verena Lehner nie gehabt hatte.
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Spiel: Nadine Schwitter & Sandra Utzinger.
Regie: Olivier Keller.
Dramaturgie: Patric Bachmann.
Vermittlung: Rebecca Etter.
Szenografie: Andreas Bächli.
Musik: Daniel Steiner.
Kostüm: Myriam Casanova.
Mithilfe: Alexandra Gloor und Ronja Rohr (Nachfahrinnen), Jessica Klein, Sandra Roser und Thibault Schiemann (Kartenleger*innen) und Cornelia Reichert (Leitende Ärztin des Tox Infos Suisse).
Koproduktion: Theater Tuchlaube Aarau & ThiK Theater im Kornhaus Baden.